Michael, kannst du etwas dazu sagen, wie du Gewerkschafter wurdest?
Ich habe früh gelernt, dass es normal ist, Menschen, in dem Fall meinen Bruder – eineinhalb Jahre älter – und mich unterschiedlich zu bezahlen, wenn wir für Nachbarn die gleichen Tätigkeiten erledigten, wie Rasen mähen, Straße kehren und Besorgungen machten. Dies war nicht gerecht und so habe ich schon als 12-jähriger erfolgreich Lohnverhandlungen geführt.
Ich habe Maurer gelernt – in einem kleinen Betrieb mit etwa 20 Beschäftigten – und bin nach der Lehre 1983 übernommen worden. Auch dort wurde ich im zweiten Gesellenjahr nicht korrekt bezahlt. Als ich es merkte, bin ich ins Lohnbüro, habe es angesprochen und bekam fortan Tarif.
Wie das so üblich war, haben wir uns morgens vor der Arbeit auf dem Lagerplatz getroffen und der Chef hat uns dann für die Baustellen eingeteilt. So auch im Oktober 1987, wobei er uns vorher noch gewichtig mitteilte: „Männer ich habe mir das mal durchgerechnet, wenn ich euch ab November kündige, statt euch in der Schlechtwetterzeit zu beschäftigten, kann ich mir von den eingesparten Sozialversicherungsbeiträgen im Frühjahr einen neuen Mercedes kaufen.“ Als er merkte, dass der Spruch nicht gut bei uns ankam, verbesserte er sich zwar noch – „oder einen neuen Bagger kaufen“ -, aber es reichte. Er wollte uns kündigen.
Unser ein köpfiger Betriebsrat organisierte dann ein Treffen mit Fred Nathan, dem damaligen Geschäftsführer der IG Bauen-Agrar-Umwelt, der IG BAU, in Koblenz mit allen Beschäftigten. Dieser klärte uns über unsere Rechte und Möglichkeiten in der Sache auf und machte dann im Anschluss noch einen Rundumschlag über Gewerkschaften, Tarifverträge und Tarifbindung.
So erklärt, war es für mich schlüssig und bin noch am selben Abend Mitglied geworden.
Wie bist du dann hauptamtlicher Sekretär geworden?
Ich habe als Maurer den Betrieb gewechselt und bekam mehr Geld, doch der Umgang unter den Arbeitskollegen war nicht kollegial und der Chef hat regelmäßig Abmahnungen ausgesprochen, zum Beispiel wenn aus seiner Sicht die Leistungen nicht ausreichend waren, man die Materialmengen nicht korrekt errechnet hatte, zu wenig, zu viel, es war egal, man konnte es ihm nicht recht machen.
Nach sieben Wochen warf ich hin. Ich hatte vom Arbeitsamt eine Liste von vier Betrieben mit Telefonnummern erhalten, die einen Maurer suchten. Schon beim ersten Arbeitgeber, den ich anrief, wurde ich am Telefon mit Tarif eingestellt. Am nächsten Tag bin ich direkt zur Baustelle und habe dort meine Arbeit aufgenommen, ohne schriftlichen Arbeitsvertrag.
Beim ersten Lohn sah ich auf der Abrechnung, dass ich pro Stunde 1,37 DM unter Tarif bekam. Noch am gleichen Abend war ich im Büro beim Chef. Das war allerdings ein kurzer Besuch, denn er machte klar, wenn ich mehr wolle, dann solle ich mir eine andere Stelle suchen. Am nächsten Tag kam er auch auf die Baustelle und ich sagte ihm, dass andersrum ein Schuh daraus würde: ich bekäme wie vereinbart meinen Tariflohn und wenn es ihm nicht passe, könne er mich ja kündigen.
Damit hatte er nicht gerechnet. Die nächsten Wochen war er öfters auf der Baustelle, zum Teil haben wir auch zusammengearbeitet. Noch bevor die nächste Lohnabrechnung fällig war, meinte er, ich würde nun meinen Tarif bekommen. Auf der Lohnabrechnung fehlten dann immer noch 9 Pfennige pro Stunde.
Ich bin wieder zu ihm hin, habe klargemacht, dass ich jetzt die Gewerkschaft einschalten werde. Das Schreiben der IG BAU hat er noch abgewartet, damit kam er auf die Baustelle, und sagte zu mir: ich solle die Gewerkschaft zurückpfeifen, er würde mir mit der nächsten Lohnabrechnung den korrekten Stundenlohn geben und auch die Differenz der letzten zwei Monate nachzahlen, was er auch tat.
Diese Lohnabrechnung habe ich in der Frühstückspause den Kollegen gezeigt, sie hatten ja die ganze Geschichte mitbekommen und mich auch davor gewarnt, den Mund aufzumachen. So konnten sie deutlich sehen, was es bringt, den Mund aufzumachen, seine Rechte zu kennen und diese auch einzufordern. Ich erhielt nun deutlich mehr als sie und was noch wichtiger war, ich hatte nun auch den Respekt meines Chefs.
Das war der Weckruf für mich.
Ich wollte nun meine Position verändern, nicht nur Maurer bleiben, also habe ich mit zum Polier-Lehrgang beim Berufsförderungswerk, kurz bfw, hier in Koblenz angemeldet. Der Lehrgang war berufsbegleitend und dauerte neun Monate.
Der Lehrgangsleiter dort war Helmut Lauterborn, der auch ehrenamtlicher Vorsitzender der IG BAU im Bezirksverband Koblenz war. Dieser wollte, dass wir gleich zu Beginn des Lehrgangs einen Sprecher wählen, der für die Klasse sprechen solle und auch bei den Dozentenbesprechungen dabei wäre. In den ersten Wochen habe ich die Wahl immer wieder verhindert. Mir schien die Funktion des Lehrgangssprecher zu wichtig, als dass wir irgendeinen aus dem Teilnehmerkreis wählen sollten. Wir kannten uns doch noch nicht so gut.
An einem Samstag wurde ich dann in Abwesenheit zum Lehrgangssprecher gewählt, während ich auf der Baustelle betoniert habe und nichts davon wusste.
Das war der Beginn meiner Interessensvertretung.
Kollege Lauterborn bekam über die Dauer des Lehrgangs mit, wie ich mit den unterschiedlichen Problemen im Lehrgang mit den Teilnehmenden, den Dozenten und dem Büro vom bfw umging. Bei einigen Problemen haben wir auch gemeinsam Lösungen gefunden. Am Schluss des Lehrgangs fragte er mich, ob ich nicht Gewerkschaftssekretär werden wollte. Für mich war das aber ein Buch mit sieben Siegeln und ich entschied, erstmal als Polier zu arbeiten.
Knapp ein Jahr später suchte mich der Kollege Lauterborn auf meiner Baustelle auf und setzte mir sprichwörtlich die Pistole auf die Brust, jetzt oder nie. Und er erwischte mich in einem Moment, wo ich offen dafür war, etwas völlig Neues zu wagen. Ich wurde 1990 bei der IG BAU eingestellt und zum Gewerkschaftssekretär ausgebildet. Nach der Ausbildung, die bundesweit war, wurde ich im Bezirksverband Koblenz eingesetzt und bin bis heute geblieben.
Du schaust auf mehrere Jahrzehnte in dieser Tätigkeit. Gibt es zwei High Lights, die du gerne teilen möchtest?
Das Wichtigste ist mir, etwas zusammen mit und für die Kollegen*innen zu erreichen. Und wenn du dann die Verwandlung siehst, wenn tarifliche Bezahlung keine Utopie bleibt, sondern Wirklichkeit wird, hat man die Welt ein Stückchen besser und gerechter gemacht, darum geht es.
Ein Beispiel aus 1993: in einem Betrieb, den ich aufsuchte, war der Vorarbeiter bereit, mit mir zu sprechen. Dazu ging er mit mir in den Keller, weil „die Wände auf der Baustelle Ohren haben“, wie er sagte. Dort teilte er mir seinen Stundenlohn mit und meinte, er verdiene mehr als die anderen. Ich zeigte ihm zum Vergleichen die Tabelle mit den Tariflöhnen. Er konnte nicht glauben, was er sah, und wurde sofort IG BAU-Mitglied. Die Differenz zum Vorarbeiterlohn betrug über fünf Mark pro Stunde. Die Differenz habe ich für ihn gegenüber dem Arbeitgeber geltend gemacht. Nach der Geltendmachung hat der Arbeitgeber den Lohn auf den aktuellen Gesellenlohn angehoben, knapp drei Mark pro Stunde. Eine Klage gegen den Arbeitgeber wollte der Kollege nicht führen. Um die verbleibende Differenz zum Vorarbeiterlohn von mehr als zwei Mark wollte er sich selbst kümmern.
Nach etwa drei Jahren habe ich ihn auf einer Baustelle in Koblenz wiedergetroffen. Das war ein völlig anderer Mensch. Ein Mann, der mitten im Leben stand, wusste, was er wert war und bereit war, Verantwortung zu übernehmen. Mittlerweile war er Polier, immer noch im selben Betrieb bei tariflicher Bezahlung.
Oder ein anderes Beispiel: wir haben bei der Ausgliederung eines Betriebsteiles erreicht, dass jede Schlechterstellung und ein tarifloser Zustand verhindert wurde. Bis heute gilt der Bau-Tarifvertrag dort, obwohl sie eigentlich nicht mehr der Branche zugehörig sind.
Das sind Beispiele für meine High Lights, die mich immer wieder neu motivieren.
Welche Veränderungen in der Baubranche siehst du, die die gewerkschaftliche Arbeit erschweren?
Aktuell hat die Baubranche etwa 930.000 Beschäftigte. Wir stehen kurz vor der nächsten Tarifrunde für das Bauhauptgewerbe. Diese Verhandlungen finden in einer sehr spannenden Zeit statt.
Seit Monaten werden wir mit Meldungen überzogen, dass der Bau in einer tiefen Krise steckt. Gleichzeitig zeigen Pressemeldungen aber auch, dass es Bau-Bereiche gibt, die volle Auftragsbücher haben.
Die Firmen, die nicht allein vom Ein- und Zweifamilien-Hausbau abhängig sind, schätzen die Situation nicht so schlecht ein, wie die Arbeitgeberverbände das öffentlich kommunizieren.
Der Bau mit seinen unterschiedlichen Sparten entwickelt sich auch unterschiedlich. Der Hochbau kommt immer mehr unter Druck – aber vor allem im Bereich des Ein- und Zweifamilien-Hausbaus.
Gleichzeitig sieht es im Tiefbau, im Straßen- und Infrastrukturbau weiterhin gut aus und auch dem Wirtschaftsbau geht es nicht so schlecht.
Wenn man dann noch die aktuellen Daten des ifo-Instituts und des WSI-Instituts heranzieht, dann zeigt sich, dass die Bauwirtschaft zuletzt als eine der wenigen Wirtschaftszweige auch von der Inflation profitiert hat und ordentliche Gewinne verbuchen konnte.
Dem Bau haben in den vergangenen Jahren schon die Arbeitskräfte gefehlt, um die Aufträge der Gegenwart und der Zukunft abarbeiten zu können. Es müssen Wohnungen gebaut, Straßen und Brücken saniert und Schienen erneuert werden. Davon hängt die Entwicklung unseres Landes ab.
Die Arbeitgeberverbände reden davon, dass zehntausende ihren Arbeitsplatz verlieren werden und gleichzeitig betonen sie den Fach- und Arbeitskräftemangel. Dies ist ein gefährliches Spiel der Arbeitgeber, mit dem sie die anstehende Tarifrunde im Bauhauptgewerbe belasten.
Denn: Zum einen überlegt es sich der dringend benötigte Nachwuchs gut, ob sie in einer Branche, die augenscheinlich in der Krise steckt, eine Ausbildung machen wollen, und zum anderen werden diejenigen, die jetzt ihren Arbeitsplatz in der Bau-Branche verlieren sollten, nicht wieder zurückkommen, sondern abwandern in andere Bereiche.
Was ist deine Motivation für dein Engagement?
Als Gewerkschafter sehe ich mich als Teil einer lebendigen Demokratie, in der es in erster Linie um Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen geht, um die Mitbestimmung und Einflussnahme auf Prozesse im Betrieb und Gesellschaft.
Ich sehe mich als Brückenbauer.
Ich vertrete die Interessen der Mitglieder der IG BAU und auch der Beschäftigten und baue Brücken zwischen ihnen und ihrem Arbeitgeber. Es geht immer um Geben und Nehmen. Es ist mir auch wichtig, dass der Ton stimmt und der Respekt voreinander.
Ich habe Spaß an Lösungen und die suche ich, und finde sie auch oft. Auch so macht mir meine Arbeit Spaß!
Es tut mir gut, wenn ich sehe, dass Menschen sich weiterentwickeln, Selbstbewusstsein bekommen und für sich und andere einstehen. Das ist meine Art, politisch unterwegs zu sein.
Da könnte ich viele Geschichten erzählen. Eine erzähle ich jetzt noch, und zwar die von einem Dachdecker-Kollegen, der sich traute, morgens direkt auf die Baustelle zu fahren ohne Material und Werkzeug. Am Tag vorher hatte sein Chef deutlich gesagt, dass die Arbeit auf der Baustelle beginnt und auch erst ab dort bezahlt wird. Also: das Beladen des Transporters mit Materialien und Werkzeugen am Lager sowie die Anfahrt zur Baustelle von dort ist laut Arbeitgeber ab sofort keine Arbeitszeit mehr und wird somit auch nicht bezahlt.
Als sein Chef ihn dann morgens auf dem Handy anrief und fragte, wo er denn bliebe, bekam er die Antwort: „Auf Arbeit. Ich bin schon auf der Baustelle.“
Antwort des verblüfften Chefs: „Aber du hast doch gar kein Material und kein Werkzeug ...“
Ab da wurde wieder ab Lager bezahlt.
Wenn mir so etwas erzählt wird, dann kann ich lachen und freue ich mich über den Kollegen, der so clever oder gewitzt handelte, in dem Fall auch für seine beiden Arbeitskollegen im Betrieb.
Was möchtest du erreichen?
Vieles habe ich eben schon gesagt.
Vielleicht als Zusammenfassung: ich möchte, dass die Beschäftigten, die von ihrer Hände Arbeit leben, neben einer guten tariflichen Bezahlung auch Respekt und Wertschätzung für ihre Arbeit erfahren. Dies geht am besten gemeinsam. Folglich ist ein hoher Organisationgrad im Betrieb bzw. in der Branche der Garant dafür. Daran arbeite ich jeden Tag zusammen mit den aktiven Beschäftigten in den Betrieben.
Welche Bedeutung hat der DGB in deiner Arbeit?
Der DGB hält die Gewerkschaften zusammen und hat den Auftrag, das zu tun, was die Einzelgewerkschaft allein nicht schaffen kann. Wir sind in den Betrieben eingebunden und ins Tarifgeflecht.
Der DGB ist aus meiner Sicht die politische Vertretung der Mitgliedsgewerkschaften vor Ort und auf Bundesebene, kann Themen bündeln. Er kann auch Themen anpacken, die über Tarif hinausgehen, zum Beispiel: Rente muss zum Leben reichen. Der DGB kann für uns sprechen. Für mich ist er der Dachverband, das Dach, unter dem wir vereint sind.
In der Handwerksarbeit zum Beispiel ergänzen wir uns. Der DGB koordiniert und wir Mitgliedsgewerkschaften sprechen zum Beispiel Kollegen und Kolleginnen für die Arbeit in den verschiedenen Gremien an, zum Beispiel für den Vorstand, für den Berufsbildungsausschuss und die Vollversammlungen und auch für die Gesellen- und Meisterprüfungsausschüsse. Nur zusammen bekommen wir das hin.
Mit welchen Argumenten kann man - deiner Erfahrung nach - heute junge Menschen überzeugen, Gewerkschaftsmitglied zu werden?
Für junge Menschen ist es oft eine Geldfrage. Sie fragen sich: Wie hoch ist der Beitrag, welche Leistungen sind damit verbunden und wie reagiert mein Chef darauf, wenn er mitbekommt, man ist in der Gewerkschaft.
Für mich ist die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zunächst eine Haltungsfrage und ein Ausgleich des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten. Nur mit einem hohen Organisationsgrad im Betrieb bzw. der Branche kommen wir auf Augenhöhe mit den Arbeitgebern und können so Rechte und Verbesserungen für die Beschäftigten erreichen.
Junge Menschen sollten das Prinzip verstehen, dass Arbeitnehmer*innen und Gewerkschaften zusammengehören. Denn nur dann haben sie einen tariflichen Anspruch, der sich auch rechtlich durchsetzen lässt. Anhand der Tariflohntabelle kann man leicht sehen, ob sie bei ihrem Arbeitgeber mit Respekt und Wertschätzung behandelt werden. Tariflohn ist das Mindeste, was ihnen zusteht.
Michael, du bist jetzt 60 Jahre alt geworden. Wenn du zurückschaust, was würdest du heute anders machen?
Abgesehen davon, dass ich nicht aus meiner Haut raus kann … ich würde mir mehr Zeit für die eigene Weiterbildung einräumen, um effektiver sein zu können. Damit meine ich, mir Wissen aneignen, auch im Umgang mit der Technik. Da war ich nicht immer konsequent.
Aber sonst:
Ich bin ein Praktiker vor Ort. Für die großen politischen Leitlinien sind andere zuständig. Ich bereite vor, organisiere und setze mit Hilfe der Ehrenamtlichen dann die Sachen durch oder um.
Ich bin am richtigen Platz. Das auf jeden Fall, nah am Ball, nah bei den Menschen.
Und ich bin durch und durch IG BAU-ler. Das ist meine Gewerkschaft, hier bin ich zuhause.
Danke, Michael, für das Gespräch und herzlichen Glückwunsch noch zum runden Geburtstag! Alles Gute weiterhin für dich!
Glück auf!
Das Gespräch führte Edith Sauerbier, DGB Koblenz