Interview mit Dana Schlegelmilch

Datum

Dachzeile Gewerkschaften vor Ort

  • aus Hahnstätten im Rhein-Lahn-Kreis
  • ver.di-Gewerkschaftssekretärin in Hessen
  • NS-Historikerin und Gründerin der Gedenkinitiative Diez/Limburg:
    Referentin der Gedenkveranstaltung des DGB am 22. März 2025 in Diez

Wie bist du dazu gekommen, dich mit dem Thema Stalag zu beschäftigen?

Dazu kann ich eine kleine Anekdote erzählen:

Ich habe 2007 bis 2009 mein Volontariat in einer Gedenkstätte in Westfalen gemacht, und dort in der Nähe gibt es auch eine Gedenkstätte für ein anderes Stalag. Bei einem Besuch dort habe ich das erste Mal eine Liste dieser Lager gesehen und darauf stand: ‚Stalag XII A Limburg‘.

Ich dachte direkt: „Das kann ja nicht mein Limburg sein, das wüsste ich doch.“ Dann habe ich auf die Karte daneben geguckt und gedacht: „Wow, doch mein Limburg.“

Ich habe dann gegoogelt und die Info gefunden, dass das Lager am Ort der damaligen Freiherr-vom-Stein-Kaserne war, also auf Diezer Gebiet an der Limburger Stadtgrenze direkt neben der JVA. Das war damals noch eine Kaserne der Bundeswehr und damit war klar, dass man da nicht so leicht etwas erreichen kann.

Etwa drei oder vier Jahre später stand dann in der Zeitung, dass das Gelände verkauft werden soll: Die Rede war davon, einen Baumarkt anzusiedeln. Genau in dieser Zeit war ich wieder hier in der Gegend, hatte ein Forschungsstipendium für ein völlig anderes Thema und habe gedacht: „Jetzt gilts, jetzt kannst und musst du was machen.“

Das war 2012 sozusagen die Geburtsstunde der Gedenkinitiative Diez/Limburg. Mittlerweile ist die Bundeswehr lange ausgezogen, das Gelände ist erst als Geflüchteten-Erstaufnahme genutzt worden und ist jetzt Bundespolizeischule.

Und mich hat das Thema seitdem nicht mehr losgelassen.

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Zum Hintergrund: 

In Diez an der Grenze zum hessischen Limburg lagen in der NS-Zeit zwei NS-Tatorte, die Schauplatz von Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren: Das Strafgefängnis Diez (heute Justizvollzugsanstalt) sowie benachbart das Kriegsgefangenenlager Stalag XII A Limburg (heute Bundespolizeiaus- und -fortbildungszentrum Diez). Stalag ist die Abkürzung für „Mannschaftsstammlager“.

Beide Institutionen waren Teil des nationalsozialistischen Verfolgungs- und Zwangsarbeitssystems und von überregionaler Bedeutung. Die genaue Zahl der Toten ist bis heute nicht bekannt, doch fanden die Alliierten bei der Befreiung 1945 Hunderte von Einzel- und neun Massengräbern von Menschen, die an diesen beiden Orten ermordet wurden.

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Was möchtest du mit deinem Engagement erreichen?

Ich glaube, da sind zwei Ebenen für mich wichtig:

Erstens geht es um die Relevanz, die die Geschichte für uns heute hat – Stichwort „Lernen aus der Geschichte“. Wir leben ja in einer Zeit, in der behauptet wird, dass das Thema Nationalsozialismus ständig wiederholt würde. Gleichzeitig gibt es in der Gesellschaft absurderweise immer weniger Wissen darüber und immer abstrusere Umdeutungen. Und die zentrale Lehre aus der Zeit – die Achtung der Menschenrechte und der menschlichen Würde – wird mittlerweile sogar durch den Staat selbst missachtet. Da brauchen wir nur an die Migrationspolitik und das Sterbenlassen im Mittelmeer zu denken. Da ist es wichtig, sich mit der nationalsozialistischen Verfolgung, der Ideologie und den Tätern und Täterinnen zu beschäftigen, im Sinne des viel beschworenen „Nie wieder“.

Und die zweite Ebene ist eigentlich eine ganz emotionale: Für mich spielt das Gedenken an die Ermordeten auch persönlich eine entscheidende Rolle. Wenn man sich, wie ich, so lange und so intensiv mit den Quellen befasst, merkt man, wie viele ermordete Menschen noch immer nicht identifiziert sind. Das sind Menschen, die auf brutalste Weise ums Leben gebracht wurden und die auch für die Ewigkeit vergessen gemacht werden sollten.

Da ist es mir einfach wichtig, das Gedenken an jeden Einzelnen und jede Einzelne mit meiner Recherche möglich zu machen, Namen zu finden, Lebens- und Sterbedaten, vielleicht Fotos, und wenn möglich auch herauszufinden, was genau passiert ist.

 

Was sind die nächsten Schritte? Mit welchen Personen, Institutionen möchtest du ins Gespräch kommen, damit es zu einer Gedenkstätte kommt?

Ich kämpfe ja schon seit mehr als zehn Jahren für eine Gedenkstätte, insofern habe ich schon viele Kontakte und auch schon viele Gespräche geführt. Es fehlt aber bislang einfach der politische Wille. Es hilft ja nicht, wenn alle, mit denen ich rede, das ganz schlimm finden, aber dann nichts passiert.

Der Landtagspräsident von Rheinland-Pfalz Hendrik Hering hat Anfang März 2025 angeregt, dass es mehr Gedenkorte geben sollte.

Da kann ich nur sagen: Absolut richtig! Und Diez wäre der passende Ort, an dem man damit beginnen sollte. Beide Diezer NS-Tatorte stehen für Verbrechenskomplexe, an die in Rheinland-Pfalz im Gegensatz zu anderen Bundesländern noch nicht mit Gedenkstätten erinnert wird.

Das Gebäude, das sich dafür anbieten würde – die denkmalgeschützte Schreinerei der JVA Diez –, gehört dem Land Rheinland-Pfalz sogar, es könnte also ohne Weiteres damit losgelegt werden.

Also vielleicht sollte ich mich mal mit Herrn Hering unterhalten.

Wie sind die Reaktionen auf das Aufdecken dieses Teils der regionalen Geschichte?

Viele sind sehr geschockt, gerade beim Anblick der Bilder von verhungerten und gequälten Menschen, dass etwas so unvorstellbar Grausames hier vor Ort passiert ist und dass es nur noch so wenigen bekannt ist, obwohl das Massensterben niemals verheimlicht wurde.

So ging es mir am Anfang auch, ich dachte, ich würde mich gut auskennen, es hat mich ja schon als Schülerin interessiert. Und erst, als ich mich tiefer damit beschäftigt habe und mit meinem professionellen Background angefangen habe zu forschen, ist mir das Ausmaß bewusst geworden.

 

Welche Entdeckungen hast du gemacht, die du hier im Interview teilen möchtest?

Ich entdecke menschliche Schicksale, ich glaube, das kann man so sagen. Es ist schwierig, es in kurze Worte zu fassen. Aber auf einer strukturellen Ebene ist es, glaube ich, die Entdeckung, dass es bei uns ein Lager und ein Gefängnis gab, die in das Netzwerk der NS-Vernichtungsorte maßgeblich eingebunden waren. Dass es direkte Verbindungen in die KZ Buchenwald und Mauthausen-Gusen und auch in die Moorlager im Emsland gab.

Und letztendlich war das Ganze eng verknüpft mit dem Alltag in unserer Region während der Zeit des Nationalsozialismus. Ich höre zum Beispiel ganz oft von Leuten, die hier in der Region aufgewachsen sind, dass sie auch Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Hof oder in der Fabrik hatten, teilweise eben auch aus dem Stalag. Aber die Umstände sind den Leuten heute dann doch nicht mehr bewusst.

Es gibt noch eine Entdeckung, die mir viel bedeutet: Auf unseren Friedhöfen gibt es teilweise noch immer Gräber dieser Ermordeten und man kann dort hingehen und die Toten sozusagen besuchen, wenn man es möchte und damit ihr Vergessen verhindern.

 

Wo können Menschen sich informieren, die tiefer in das Thema einsteigen möchten?

Also ganz platt würde ich sagen: Leider bisher nur bei mir…
Da ich eine Homepage gestaltet habe, passiert das tatsächlich auch. Insbesondere Nachkommen von Gefangenen aus verschiedenen Ländern melden sich bei mir. Auf der Homepage ist allerdings von den beiden NS-Tatorten erst einer zu finden, nämlich die Strafanstalt.

Ich nehme mir immer vor, den Teil zum Stalag auch endlich fertig zu machen, allerdings muss man da auch sagen, dass der Forschungsstand viel schlechter ist.

Ich hatte einen langjährigen Mitstreiter, Adolf Morlang, der seit den 1970er Jahren als Lehrer und Heimatforscher im besten Sinne in Diez gewirkt hat und im Herbst 2024 mit 83 Jahren verstorben ist. Seine Arbeiten zur Strafanstalt, die er über die Jahre geleistet hat, waren grundlegend. Darüber hat er auch Bücher geschrieben. Für die Strafanstalt kann man also in Literatur recherchieren.

Zum Stalag leider noch nicht. Ich mache das jetzt seit 2012 ehrenamtlich, also immer dann, wenn ich die Zeit dafür finde, in Archive zu gehen. Ich würde sagen, dass ich jetzt, nach diesen vielen Jahren, langsam ein umfassendes Bild zusammensetzen kann und Expertise habe.

Gerade das Thema NS-Kriegsgefangenschaft ist aber auch bundesweit noch nicht sehr gut aufgearbeitet, vor allem, wenn man auf die lokalen Ebenen schaut. Es gibt eigentlich erst Ansätze und relativ wenige Gedenkstätten, und auch professionelle Historiker und Historikerinnen haben häufig nicht viel Wissen dazu.

Das und die Tatsache, dass ich diese Forschung auch allein finanziere, hat zur Folge, dass es noch keine Publikationen oder ähnliches dazu gibt. An sich liegt es also einfach an den Ressourcen: So ist das mit ehrenamtlichem Engagement.

Das Thema wird aber sicher mein Lebensprojekt bleiben.

 

Hauptberuflich bist du Kollegin bei ver.di. Welche Verbindungen siehst du zwischen deiner gewerkschaftlichen Tätigkeit und deinen geschichtlichen Forschungen?

Ich bin tatsächlich erst seit November 2024 hauptberuflich bei ver.di. Zuvor habe ich 17 Jahre in der Gedenkstättenarbeit und NS-Forschung gearbeitet, also als „richtige“ Historikerin mit Gedenkstättenvolontariat und allem.

Man kann schon sagen, dass ich dabei sogar ziemlich weit gekommen bin, ich war einige Jahre Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung, habe zeitweise ein Dokumentationszentrum in Niedersachsen geleitet und eine Machbarkeitsstudie für ein großes erinnerungspolitisches Projekt in Sachsen mitverfasst.

Für das Netzwerk der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen, die sich mit NS-Kriegsgefangenschaft befassen, habe ich letztes Jahr sogar als Delegierte am Runden Tisch zum Bundesgedenkstättenkonzept bei Claudia Roth teilgenommen, im Kreis mit vielen anderen Experten und Expertinnen aus Gedenkstätten. Dass mich die Fachkollegen und Kolleginnen entsandt haben, macht mich schon ein bisschen stolz vor dem Hintergrund, dass ich nicht aus einem akademischen Haushalt komme und in der Rückschau einen ziemlich weiten und manchmal holprigen Weg zurückgelegt habe.

Holprig war er vor allem, weil ich 17 Jahre lang in befristeten Verträgen in insgesamt sechs Bundesländern gearbeitet habe. Mein kürzester Vertrag war fünf Monate, der längste zwei Jahre mit nochmaliger einjähriger Verlängerung. Denn egal wie oft beschworen wird, dass diese Arbeit gesellschaftlich superwichtig ist: Gedenkstättenarbeit ist häufig ein sehr prekärer Job. Wie im wissenschaftlichen Bereich insgesamt gibt es nur wenige feste Stellen und viele Befristungen.

Und konsequenterweise bin ich jetzt für den Bereich Hochschulen, Forschung, Weiterbildung und Dokumentationseinrichtungen bei ver.di in Mittel- und Nordhessen zuständig, um daran mitzuwirken, genau diese Verhältnisse zu ändern.

Eine inhaltliche Verbindung gibt es aber auch: Ich würde sagen, gerade im gewerkschaftlichen Bereich pflegen wir die Erinnerung auf eine ehrliche, nicht zum Ritual erstarrte Weise und halten das Gedenken aktiv hoch.

Es gibt in Deutschland auch eine ganze Reihe von Gedenkstätten, die maßgeblich von Gewerkschaften initiiert wurden – das ist ein heute eher unbekanntes Kapitel in der Gewerkschaftsgeschichte. Noch immer sind viele aktive Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen von einer antifaschistischen Grundhaltung geprägt. Das ist mir sehr wichtig.

Außerdem sind wir diejenigen, die dafür einstehen, dass es soziale Gerechtigkeit und ein gutes Leben für alle geben muss. Denn das zeigt die historische Forschung und auch die aktuelle politische Lage sehr klar: Wenn eine Gesellschaft es nicht schafft, einen ökonomischen Ausgleich herzustellen und Menschen in Krisenzeiten solidarisch aufzufangen, ist die Gefahr, dass sie nach rechts abrutscht, sehr real.

 

Welche Bedeutung hat der DGB für dein Wirken?

Also meine ersten gewerkschaftlichen Erfahrungen habe ich in meiner Marburger Studienzeit beim DGB gemacht, da war ich Teamerin beim Netzwerk für Demokratie und Courage, das in Hessen vom DGB getragen wurde.

Das ist schon fast 20 Jahre her, aber ich würde immer noch sagen, dass diese Bildungsarbeit, die der DGB leistet – egal ob für junge oder ältere Menschen –, für mich ein sehr zentraler Bezugspunkt ist.

Gerade weil mein Arbeitsalltag jetzt die Betreuung der betrieblichen Aktiven und die Tarifarbeit ist, ich also gewerkschaftliche Kernarbeit mit Perspektive auf den Betrieb mache, schätze ich den Rahmen, den der DGB darüber hinaus bildet: Ich meine damit den politischen Blick über den einzelnen Betrieb, die einzelne Branche und auch über die einzelne Gewerkschaft hinaus verbunden mit dem Willen, die Gesellschaft aktiv zum Besseren zu verändern.

Als Gewerkschafterin betrachte ich uns immer als ein großes Netzwerk, und da ist der DGB ja ganz entscheidend, sozusagen als Knotenpunkt, der alles zusammenhält.

 

Wo siehst du dich in fünf Jahren?

Puh, das ist eine wirklich schwierige Frage.

Dann bin ich 50. Was mich die vergangenen Jahre gelehrt haben, ist eigentlich, dass es immer anders kommt, als man es geplant hat…

Was mich freuen würde: Wenn ich in fünf Jahren in Diez eine Gedenkstättenausstellung eröffnen könnte, zusammen mit vielen anderen Menschen.

Ich visualisiere das also mal vor meinem inneren Auge, wie ich da vor dem Gebäude der Schreinerei bei der Eröffnung stehe und eine Schleife durchschneide – vielleicht klappts ja, das wäre schön!

 

 Danke, Dana, für das Gespräch, und wir bleiben dran, damit deine Vision Wirklichkeit wird.

 

Literatur:

Adolf Morlang: Zwischen „Schutzhaft“ und KZ: Strafvollzug im „3. Reich“ am Beispiel der Strafanstalt Freiendiez (heute Justizvollzugsanstalt Diez), Diez 2007.

JVA Diez (Hrsg.), Strafvollzug in Diez: 100 Jahre Strafanstalt Freiendiez / Justizvollzugsanstalt Diez 1912-2012: eine Chronik in Texten Zeitzeugenberichten, Quellen und Bildern, Diez 2021. 

Homepage:

www.gedenkinitiative.de

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